2. Politischer und filmwirtschaftlicher Kontext
Die österreichisch-italienische Zusammenarbeit entwickelt sich vor dem allgemeinen Hintergrund der politischen Allianz, die den österreichischen Ständestaat an das faschistische Regime bindet, und der Zeitpunkt, in dem Tagebuch der Geliebten entsteht, erscheint als markant; die Annäherung in den 1930er Jahren zwischen Wien und Rom spielt bei der Entwicklung ihrer Zusammenarbeit im Bereich Film eine gewichtige Rolle.
Ab Ende der 1920er Jahre bemüht sich die faschistische Regierung um eine engere Partnerschaft zu Österreich. Es wird, wie Angelo Ara zusammenfasst, „eine auf Festigung der italienisch-österreichischen Beziehungen abzielende Politik“ betrieben,3 und man setzt sich für die österreichische Unabhängigkeit ein; sie gilt für Rom „als vorrangiges Ziel, […] auch um ein Aufkommen deutscher Hegemonie in Mitteleuropa zu vermeiden“.4 Nach der Wahl Engelbert Dollfuss‘ zum Bundeskanzler im Frühjahr 1932 festigt sich die österreichisch-italienische Freundschaft, und der österreichischen Ständestaat findet im Nachbarland Unterstützung gegen Berlin und den Versuch, Österreich in das Deutsche Reich einzuverleiben. Als es im Juli 1934 zu einem Putschversuch kommt, der von Berlin aus unterstützt wird, war ein sofortiger Aufmarsch italienischer Truppen am Brenner verordnet worden, und die Geste verdeutlicht exemplarisch die Rolle, die das faschistische Italien Mitte der 1930er Jahre als Protektor Österreichs spielt.
Die politische Freundschaft begünstigt gleichzeitig eine intensive Kooperation auf wirtschaftlicher Ebene, und die schrittweise Annäherung Österreichs an Italien führt in der ersten Hälfte des Jahrzehnts, vermerkt Karl Stuhlpfarrer, „von Handelsverträgen mit geheimen Präferenzen über Zollunionspläne bis hin zu den Römer Protokollen“.5 Durch das umfangreiche Abkommen, zu dem es im Frühjahr 1934 kommt, und das ebenso Ungarn einschließt, war der Rahmen geschaffen worden für eine enge Zusammenarbeit zwischen Österreich und Italien. Es folgt ein weiteres Abkommen, das die kulturelle Kooperation fördern soll,6 und die Römischen Protokolle und das österreichisch-italienische Kulturabkommen, das Anfang 1935 unterschrieben wird, markieren den Höhepunkt der österreichisch-italienischen Kooperation zwischen Erstem Weltkrieg und „Anschluss“.
Es muss des Weiteren die spezifische Situation in Betracht gezogen werden, in der sich der italienische Film zu Beginn der 1930er Jahre befindet. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte das italienische Kino, das in den 1910er Jahren internationalem Ruhm genießt, eine schwere Krise erlebt; die Produktion war auf wenige Titel pro Jahr zusammengeschrumpft. Nach Einführung des Tonfilms lässt sich ein langsamer Aufschwung verzeichnen, und die jährliche Produktion steigt an; doch es bleibt bei einem bescheidenen Volumen im Vergleich zu Deutschland, England und Frankreich, und die faschistische Regierung ist Anfang der 1930er Jahre bemüht, dem italienischen Film neuen Impuls zu verleihen.7
Im Herbst 1934 wird die Direzione Generale per la Cinematografia gegründet, und die zeitliche Koinzidenz mit dem Anfang der österreichisch-italienischen Zusammenarbeit ist beachtenswert. Die Direzione Generale ist Teil des Sottosegretariato di Stato per la Stampa e la Propaganda, und es leitet sie der Journalist Luigi Freddi. Der neuen Einrichtung wird die Aufgabe zuteil, das italienische Kino „zu regeln, anzuregen, zu leiten und zu überwachen“,8 und die Direzione Generale hat für den gesamten Sektor Kompetenz; „diese neue Stelle“, meldet die Presse, „wird alles erfassen, alles kontrollieren, was irgendwie mit der Kinematographie in Verbindung steht“.9 Ihre Errichtung markiert in der Geschichte des italienischen Films der 1930er Jahre einen bedeutungsvollen Wendepunkt: Die Direzione Generale prägt maßgeblich dessen Evolution im Lauf des Jahrzehnts.
Für die Direzione Generale ist es ein primäres Ziel, „die italienische Filmproduktion, die in der Vorkriegszeit […] eine international anerkannte dominierende Stellung hatte, wieder auf dieses Niveau zu bringen“. So äußert sich ihr Leiter in einem Artikel über die Reorganisation des italienischen Kinos, das Anfang 1935 im österreichischen Blatt Der gute Film erscheint.10 Dem italienischen Film soll wieder der internationale Markt erschlossen werden, und es wird eine enge Kooperation mit dem Ausland angestrebt. Einen bevorzugten Partner stellt dabei Frankreich dar: Mitte der 1930er Jahre entstehen in Italien etliche Filme in Gemeinschafts-Arbeit mit Paris: Odette, Cuor di vagabondo, Ladro di donne, Un colpo di vento, Jungla nera. Gleichzeitig blickt man mit lebhaften Interesse nach Wien, und die österreichisch-italienische Zusammenarbeit bildet neben jener mit Frankreich die umfangreichste Allianz, die der italienische Film Mitte des Jahrzehnts auf internationaler Ebene eingeht. Die italienisch-deutsche Zusammenarbeit nimmt einige Jahre später Gestalt an, und die gleichzeitige Bemühung, Hollywood und London als Partner zu gewinnen, bleibt erfolglos. Bescheidenen Umfang hat auch die italienisch-spanische Zusammenarbeit, die sich nach Ausbruch des Krieges entwickelt.
Das politische Bündnis zwischen Rom und Wien erklärt nicht allein ihre Zusammenarbeit im Bereich Film. Anfang der 1930er Jahre genießt der österreichische Film großes Ansehen. In kurzer Zeit hatte er einen achtbaren Aufstieg verzeichnen können. Durch die ersten Filme Willi Forsts und Walter Reischs Episode war er international bekannt geworden. So vermerkt ein Blatt, „dass sich besonders in der letzten Zeit das Augenmerk der Filmwelt mit mehr Interesse als bisher auf Österreich richtet“;11 und der künstlerische Erfolg hat auch wirtschaftliche Auswirkung. Nach Maskerade, erklärt die Lichtbild-Bühne, „[interessiert] sich ausländisches Kapital in besonders starkem Maß für die österreichische Filmproduktion“.12
Dies trifft auch auf Italien zu, wo sich der österreichische Film ebenfalls großen Ansehens erfreut. Anfang 1934 war in Italien Leise flehen meine Lieder angelaufen; der Film ist ein erheblicher Erfolg,13 und Forsts Werk wird allgemein gelobt: „Er ist sehr schön, spricht das Herz und die Phantasie an, […] überzeugt, bewegt“, schreibt Enrico Roma.14 Im gleichen Jahr wird bei der Biennale Maskerade aufgeführt, wo Forsts Werk für den besten Stoff ausgezeichnet wird. Ein Jahr später ist die österreichische Produktion durch vier Titel vertreten: Episode, Nur ein Komödiant, Der zerbrochene Krug und Vorstadtvarieté,15 und Paula Wessely bekommt die prestigereiche Coppa Volpi für ihre Leistung in Episode.
Die Zeit, in der Tagebuch der Geliebten entsteht, stellt ebenso einen schicksalhaften Moment für den österreichischen Film dar, für den Deutschland traditionell das wichtigste Absatzgebiet darstellt. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wächst der Druck auf Wien, sich dem neuen Regime anzupassen und „nichtarische“ Schauspieler, Autoren und Regisseure auszuschließen, gleichzeitig wird der Import österreichischer Filme nach Deutschland begrenzt: „Von deutscher Seite war nun auch vorgesehen, die österreichischen Filmexporte nach Deutschland zu kontingentieren“.16 Für den Zeitraum vom 30. Juni 1934 bis 1. März 1935 wird ein Kontingent von zehn Filmen festgelegt. Letztlich können nach Deutschland 16 Filme verkauft werden, doch das nächste Abkommen, das im Februar 1935 mit Berlin abgeschlossen wird, verringert die Zahl auf 12.
Die Situation führt in Österreich zu einer lebhaften Debatte über die Möglichkeit, eine vom deutschen Markt unabhängige Produktion zu führen. Wobei „der Wegfall des deutschen Marktes“, wie Armin Loacker anmerkt, „eine wesentliche Zunahme des Risikos für die unabhängigen Filmproduzenten [bedeutet]“.17 Um dem Problem entgegenzuwirken, bemüht sich der österreichischen Film um ausländische Partner, und es werden internationale Koproduktionen angestrebt, mit dem Ziel, die Auswertungs-Chancen zu maximieren. Es kommt im Besonderen zu einer Zusammenarbeit mit Holland, der Tschechoslowakei und Ungarn. Ferner wird auf eine Kooperation mit Skandinavien abgezielt, und man versucht erfolglos, eine mit England und Hollywood aufzubauen. Eine besondere Bedeutung wird in Antwort auf den deutschen Boykott einer Allianz mit Italien zugeschrieben. Im südländischen Nachbar soll ein politisches und filmwirtschaftliches Gegengewicht zur deutschen Vorherrschaft gefunden werden, und man setzt auf die österreichisch-italienische Zusammenarbeit, um eine von Berlin unabhängige Produktion auf die Beine zu stellen: „Eine Umorientierung nach Italien hin scheint der Ausweg zu sein“, schreibt im Frühjahr 1935 die Internationale Filmschau hoffnungsvoll.18