3. Der erste Film
Tagebuch der Geliebten stellt die erste österreichisch-italienische Gemeinschaftproduktion dar, doch der Film markiert nicht den eigentlichen Beginn der Kooperation zwischen Wien und Rom. Ihre Anfänge liegen im Jahr 1934. Vor Tagebuch der Geliebten wird in Rom ein Film hergestellt, Casta Diva, für den Walter Reisch das Buch schreibt. Regie führt Carmine Gallone, die weibliche Hauptrolle wird mit einem Star des deutschsprachigen Films der 1930er Jahre: Marta Eggerth besetzt, und Casta Diva mag als faktischer Anfang der österreichisch-italienischen Kooperation gelten; es ist der Film, der sie in Gang setzt.
Hergestellt wird Casta Diva von der Alleanza Cinematografica Italiana (ACI), die im November 1934 in Rom gegründet wird,19 und an der auch eine prominente Figur des österreichischen Films der 1930er Jahre, Wilhelm Szekely, beteiligt ist. In den 1920er Jahren hatte Szekely in Berlin als Produktionsleiter gearbeitet. Als er nach 1933 Deutschland verlässt, lässt sich Szekely in Wien nieder, wo er im Sommer 1935 die Gloria-Film gründet, der Anfang 1937 die Intergloria-Film folgt. Des Weiteren ist Szekely an der Luxor-Film und dem Rex-Film-Verleih beteiligt.20 Zusammen mit Szekely nehmen an der Gründung der ACI Gallone und Roberto Maltini teil. Ersterer zählt zu den größten Vertretern des italienischen Films zwischen den 1910er Jahren und der zweiter Nachkriegszeit,21 während es sich bei Maltini um eine prominente Figur des faschistischen Regimes handelt. In den 1920er Jahren war Maltini Abgeordneter und Mitglied des Direktoriums der Faschistischen Partei gewesen.22 Zwar zählt Szekely nicht zu ihren Gesellschaftern: Es sind Gallone, seine Frau Soava und Maltini, die respektive vier Fünftel, fünf und 15 Prozent der ACI besitzen; doch er wird in der Presse gemeinsam mit den Italienern als ihr Gründer angeführt,23 und Szekely gehört zusammen mit Gallone und Maltini, die als Geschäftsführer und als Vorstandsvorsitzender fungieren, dem Vorstand an.
Es besteht gleichzeitig eine engere Verbindung zwischen der ACI und Arnold Pressburger und Gregor Rabinowitsch, für die Anfang der 1930er Jahre Szekely in Berlin arbeitet. Sie gehören zu den wichtigsten Produzenten des deutschsprachigen Films der Zwischenkriegszeit.24 Ersterer hatte in den 1910er Jahren in Wien die Leihanstalt Philipp & Pressburger geleitet. Danach fungiert er längere Zeit als Direktor bei der Sascha-Film. Der russische Emigrant Rabinowitsch war in den 1920er Jahren zwischen Paris und Berlin tätig gewesen, wo er mit der UFA kooperiert. Anfang der 1930er Jahre hatten sie in Berlin die Cine-Allianz ins Leben gerufen, die sich auf Musikfilme und internationale Produktionen spezialisiert. Auf ein Naheverhältnis der ACI zu Pressburger und Rabinowitsch deutet schon ihr Name hin, der offensichtlich an die Cine-Allianz erinnert. Auf die enge Verknüpfung verweist auch die Presse. So informiert die Lichtbild-Bühne, dass „die Alleanza Cinematografica Italiana […] mit der Cine-Allianz, Berlin eng verbunden ist“;25 und Pressburgers und Rabinowitschs Mitwirkung an der Herstellung von Casta Diva wird durch Freddi bestätigt: „Für diesen Film hatte sich der Generalstab der europäischen Produktion nach Rom begeben, von Arnold Pressburger bis hin zu Gregor Rabinowitsch“.26
Eine wichtige Rolle spielt gleichfalls Gallone. Für die Cine-Allianz hatte der italienische Regisseur 1934 Mein Herz ruft nach Dir gedreht, und eine längere Zusammenarbeit bindet Gallone, der Mitte der 1920er Jahre nach Berlin gezogen war, als sich der italienische Film in tiefer Krise befindet, an Pressburger und Rabinowitsch. In Berlin zeichnet Gallone für Das Land ohne Frauen verantwortlich, einen frühen Tonfilm, an dem auch Pressburger mitwirkt, ihre Kooperation setzt mit Die singende Stadt und Ma cousine de Varsovie fort, und der italienische Regisseur, der auch in Paris und London erfolgreich tätig ist, stellt offenbar das Verbindungs-Glied zwischen dem ausländischen Produzenten-Duo und der Direzione Generale dar, durch welche die ACI maßgebend unterstützt wird.
Casta Diva stellt das erste Projekt großen Umfangs dar, an dem in Italien nach der Errichtung der Direzione Generale gearbeitet wird: „Der Film sollte die Wiedergeburt des italienischen Kinos anzeigen“, erklärt Gallone,27 und Freddis Wunsch, in Italien eine Produktion auf die Beine zu stellen, die internationales Niveau aufweist, trifft sich mit Pressburgers und Rabinowitschs Bestreben, die im Lauf des Jahres 1934 ihre Arbeit in Deutschland aufgeben müssen, ihrer Tätigkeit neuen Impuls zu geben. Während Pressburger in London die British Cine Alliance gründet, hält sich Rabinowitsch zwischen 1935 und 1937 vermehrt in Wien auf, und die ehemaligen Partner zielen auf eine internationale Gemeinschaftsarbeit ab, die neben Wien, London und Paris auch Rom einschließen soll.
Casta Diva ist das Resultat einer Allianz zwischen dem Produzenten-Duo, die ihr Know-how zu Verfügung stellen, und der Direzione Generale, die sich stark für das Projekt einsetzt. Diesbezüglich heißt es im Film-Kurier: „Der Generaldirektor für die Kinematographie hat sich für das Zustandekommen des großen Projektes sehr eingesetzt und die schwierigen Verhandlungen weitestmöglich gefördert und unterstützt“.28 Auf die enge Verbindung der ACI zur Direzione Generale wird auch in einem Schreiben der deutschen Botschaft in Rom hingewiesen. Es informiert, dass die Direzione Generale „auf diesem Gebiet gewissermaßen ihr Debüt feiert“ und Casta Diva unter dem Protektorat des Sottosegretariato di Stato per la Stampa e la Propaganda steht.29 Für die besondere Bedeutung, die dem Vorhaben vom faschistischen Regime beigemessen wird, spricht ebenfalls das Detail, dass der Unterstaatssekretär Galeazzo Ciano dem Drehbeginn beiwohnt.30
Das Ziel ist ambitioniert: Die ACI strebt eine europäisches Produktion an, und Casta Diva soll sich vom provinziellen Produkt abheben, das in jener Zeit in Italien entsteht: „Zweck des Unternehmens ist die Herstellung internationaler Spitzenfilme in bedeutendem Umfange, wie dies bisher in Italien noch nie geschehen ist“, betont die Presse.31 Dabei erscheint die Tatsache als beachtenswert, dass für ihr Debüt die Direzione Generale nach Wien blickt. Wobei die Beziehung zwischen Casta Diva, Wien und dem deutschsprachigen Film sich nicht auf Eggerths, Reichs und Szekelys Teilnahme beschränkt: Der deutschsprachige Beitrag weist einen entschieden größeren Umfang auf. Neben Eggerth und Reisch, „einem der besten deutschen Drehbuchautoren“,32 heißt es in der italienischen Presse, wo er stets mit Leise flehen meine Lieder und Maskerade assoziiert wird, umfasst er gleichzeitig einen Großteil des technischen Stabs: Für die Kamera zeichnet Franz Planer verantwortlich, die Szenerie plant Werner Schlichting, Willy Schmidt-Gentner komponiert die Musik, die Wienerin Gerda Irro entwirft die Kostüme. Letztere werden zum Teil in Wien angefertigt, wie aus der Presse zu entnehmen ist: „Sämtliche historischen Kostüme […] werden nach Entwürfen der bekannten Ausstattungskünstlerin Gerdago in Wien hergestellt“.33 In Wien befinden sich Anfang Dezember 1934 auch Eggerth: „[Ihr] Besuch gilt den Vorbereitungen und insbesondere der Kostümbeschaffung für ihre Rolle in dem großen Bellini-Film“,34 und Gallone; der Regisseur „hielt sich einige Tage in Wien auf“, heißt es im Film-Kurier, um „über das Drehbuch zu verhandeln“.35
Es fällt auf, dass es sich um die gleichen Namen handelt, die eineinhalb Jahre vorher an Forsts Film Leise flehen meine Lieder mitwirken. Es ist eine aufschlussreiche Koinzidenz. Vom Drehbuchautor zum weiblichen Star, Kameramann, Architekten und Komponisten, bis hin zur Kostümbildnerin und dem Produzent, Rabinowitsch, die Forsts ersten Film realisieren: Sie zeichnen auch für Casta Diva verantwortlich; und Leise flehen meine Lieder fungiert als Muster für das italienische Werk, das auffällig nach einem der größten Hits des österreichischen Films der 1930er Jahre modelliert wird. Auf die Affinität zwischen Casta Diva und Forsts Film weist bereits die zeitgenössische Presse hin. In La Stampa stellt Mario Gromo Gallones Werk mit Leise flehen meine Lieder in direkten Zusammenhang;36 ein anderer Kritiker wird später bemerken, Forsts Film werde genau studiert und seine Formel nachgeahmt,37 und manches Blatt bemängelt die Abhängigkeit, die Casta Diva gegenüber dem ausländischen Muster aufweist.38
Auf die Ähnlichkeit, die Gallones Werk zu Leise flehen meine Lieder aufweist, kann nicht in Detail eingegangen werden,39 doch sie betrifft gleichermaßen die Handlungsebene und die eigentliche Inszenierung. Hauptfigur ist der italienische Opernkomponist Vincenzo Bellini, und die Story dreht sich um seine unglückliche Liebe zu Maddalena, die ihn zur weltbekannten Arie Casta Diva inspiriert. Dabei gibt es (Figuren-)Konstellationen, die wiederkehren: das Mädchen (in Leise flehen meine Lieder heißt es Emmi, in Casta Diva ist Maddalena Tochter eines Richters), das sich dafür einsetzt, dass der Musiker eine Chance bekommt, in der Öffentlichkeit aufzutreten; das Lied, das er ihr widmet; die Frau (eine Komtesse, eine Sängerin), die den Musiker verführt. Auch die weiblichen Hauptfiguren ähneln sich, ihr Schicksal ist das gleiche: Wie Karoline muss auch Maddalena letztlich einen Mann heiraten, den sie nicht liebt, und es verzehrt sie der Schmerz.
Gleichzeitig wirkt manchmal eine Sequenz, ein Übergang, ein Detail als ein Zitat aus Forsts Film. In der Szene, in der Bellini durch Maddalenas Porträt inspiriert wird und ein Stück improvisiert, verbindet eine Doppelbelichtung ihn und Maddalena, das Klavier und ihr Antlitz, das sich vervielfältigt und das Bild ausfüllt. Auf gleiche Art drückt Leise flehen meine Lieder die Beziehung zwischen Schubert und Karoline, seiner Muse, aus. So erinnern die Tauben und der Käfig, auf dem die Kamera verweilt, als Bellini dem Mädchen seine Liebe bekennt, womit Casta Diva zugleich ihr Verhältnis und ihr Schicksal andeutet, an das Metronom, das Schuberts Schwankung zwischen Emmi und Karoline versinnbildlicht.
Sichtlich wird für Casta Diva auf Elemente aus Forsts Werk zurückgegriffen: Einzelne Teile, wie auch ganze Komplexe werden variiert und verarbeitet, und die Resonanz zwischen Leise flehen meine Lieder und Casta Diva, der als ein Höhepunkt im italienischen Film der 1930er Jahre gilt, und der ein Genre, den film opera, aus der Taufe hebt, das bis in die späten 1950er Jahre das Bild des italienischen Films mitprägt, erscheint als auffällig und interessant.