7. Das Jahr 1936
Anfang 1936 meldet die Presse: „In Wien nehmen weitere Kooperations-Projekte mit Italien Gestalt an”,145 und die österreichisch-italienische Zusammenarbeit setzt im Laufe des Jahres mit Opernring und Blumen aus Nizza fort, die in Wien unter italienischer Leitung entstehen. Gleichzeitig kommt Gustav Machaty über Wien, wo er Ekstase und Nocturno gedreht hatte, nach Italien, wo er im Frühjahr 1936 den Streifen Ballerine inszeniert.
Opernring wird Anfang 1936 gedreht, Regie führt Gallone, und es koproduzieren den Streifen die Horus- und Szekelys Gloria-Film. Es handelt sich um einen eindeutigen Musikfilm, in dem ein volkhafter Taxichauffeur, „der gar nicht Sänger werden will“, wie es in der Lichtbild-Bühne heißt, ,,durch absolut lebensmögliche Ereignisse dazu gedrängt wird“.146 Es verkörpert ihn Jan Kiepura. Zwischen dem polnischen Tenor und Pressburger und Rabinowitsch besteht seit Beginn des Jahrzehnts eine enge Zusammenarbeit, und Kiepura hatte auch zwei Filme unter Gallones Leitung gedreht, Die singende Stadt und Mein Herz ruftnach Dir. Nach Opernring setzt die Kooperation mit Zauber der Boheme fort, den Szekely 1937 herstellt und in dem Kiepura und Eggerth zusammen auftreten.147
Ende Januar meldet die Presse, Gallone sei „in Wien eingetroffen, um die Vorbereitungen für den neuen Kiepura-Film zu treffen“.148 Mit den Aufnahmen wird in der zweiten März-Hälfte begonnen, der Film wird in den Ateliers der Tobis-Sascha am Rosenhügel gedreht.149 Es ist der erste Film, der in Wien mit Kiepura hergestellt wird, und die Presse schenkt dem Projekt große Aufmerksamkeit. Das Blatt Mein Film berichtet ausführlich über die Dreharbeiten,150 und Opernring wird allgemein gepriesen. „Die Wiener Filmproduktion hat einen neuen Erfolg zu verzeichnen“, vermerkt Das Kino-Journal, und es werden Kiepuras Leistung hervorgehoben, wie auch „die geschmackvolle, das Wiener Milieu betonende Regie“.151 „Von allen Sängern, die je vor der Kamera erschienen“, merkt ein Blatt an, „hat Jan Kiepura sehr viel voraus: […] er weiß sich zu bewegen, er kann Theater spielen“,152 „Eine ungewöhnliche Zugkraft ist diesem Film sicher“, meint die Lichtbild-Bühne,153 und Gallones Werk vertritt 1936 bei der Biennale den österreichischen Film neben Schatten der Vergangenheit, Singende Jugend und Silhouetten.
Auf Opernring folgt im Herbst 1936 Blumen aus Nizza, den Augusto Genina inszeniert. Auch Blumen aus Nizza wird von der Gloria-Film produziert, und obgleich Opernring und Blumen aus Nizza in Gegensatz zu Tagebuch der Geliebten und Die weiße Frau des Maharadscha nicht als österreichisch-italienische Koproduktions-Werke gelten, deutet doch einiges auf eine italienische Beteiligung hin. Ende 1936 wird in La Stampa die Zusammenarbeit zwischen der Gloria- und der römischen Astra Film unter den wichtigsten Kooperations-Unternehmen angeführt, die auf internationaler Ebene im italienischen Film in Gang sind,154 und es ist bemerkenswert, dass Blumen aus Nizza und Opernring in Italien von derselben Gesellschaft, dem Ente Nazionale Industrie Cinematografiche (ENIC), herausgebracht werden, die auch Tagebuch der Geliebten und Die weiße Frau des Maharadscha verleiht. Die ENIC war Ende 1935 auf Initiative des Istituto Luce aus der SASP entstanden, und hatte ihre Kino-Kette und Verleih-Organisation übernommen. Auch Casta Diva war durch die ENIC verliehen worden, und es erscheint als wahrscheinlich, dass sich die ENIC an Opernring und Blumen aus Nizza finanziell beteiligt.
Blumen aus Nizza schließt deutlich an Casta Diva und Opernring an. Wie die österreichisch-italienischen Kooperations-Werke, die davor entstehen, wird auch bei Blumen auf Nizza auf ein internationales Produkt abgezielt, und es handelt sich erneut um einen Musikfilm, wobei die Hauptrolle der deutschen Sopranistin Erna Sack anvertraut wird, die Mitte der 1930er Jahre große Popularität genießt. In Blumen aus Nizza spielt sie „ein[e] Sängerin, die durch einen Reklametrick Erfolg erringt, jedoch nach dessen Aufdeckung dem Gespött der Öffentlichkeit preisgegeben wird“,155 und der Film stellt ihr Debüt auf der Leinwand dar. Mit der Arbeit an Blumen aus Nizza wird im späten Frühling begonnen. Mitte Mai meldet die Presse: „Die Gloria-Film hat als Stoff für den ersten Erna Sack-Film die Novelle Blumen aus Nizza der Schriftstellerin Maria Fagys erworben“;156 und Letztere soll auch das Drehbuch zusammen mit Max Wallner verfassen. Ende Juni begibt sich Szekely nach Rom, um sich mit Genina zu treffen,157 und Mein Film meldet Mitte Juli: „Erna Sack wird zu den Vorbesprechungen ihres ersten Tonfilms Blumen aus Nizza dieser Tage in Wien erwartet“.158 Mit den Dreharbeiten wird Mitte August begonnen, Ende September werden in Nizza, an der Côte d‘Azur und in Paris zusätzliche Aufnahmen gedreht,159 und Blumen aus Nizza wird am 2. November 1936 in Wien uraufgeführt.
Gemeinsam mit Gallone zählt Genina zu den größten Vertretern des italienischen Films der Zwischenkriegszeit. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre hatte er in Berlin gearbeitet, danach war er eine Zeitlang in Frankreich gewesen, wo er u.a. einen Film mit Luise Brooks dreht, Prix de beauté; und Genina kann sich europaweiten Renommees erfreuen.160 Insofern deutet das Engagement Geninas an Sacks Seite auf die klare Absicht hin, einen Film für den internationalen Markt herzustellen. Gleichzeitig lässt sich Blumen aus Nizza in eine umfangreiche Kooperation einreihen, die den italienischen Regisseur Mitte des Jahrzehnts an Pressburger und Rabinowitsch bindet. Im Herbst 1935 dreht er in Rom La gondole aux chimères, der von der Tiberia Film gemeinsam mit der Pariser Hélianthe Film hergestellt wird. Am Projekt soll auch Rabinowitsch beteiligt sein (obwohl sein Name uncredited bleibt). Darauf verweist die Meldung, dass Freddi, als er das Set besucht, von Rabinowitsch gemeinsam mit den Leitern der Tiberia Film empfangen wird;161Cinegiornale zeigt auch ein Foto, auf dem sie vor einem Stück Kulisse posieren.162 Ursprünglich soll auch Lo squadrone bianco, den Genina im Frühjahr 1936 inszeniert, bevor er nach Wien reist, von der der Tiberia Film hergestellt werden;163 „deutsche und englische Techniker und Künstler“, meldet die Presse, sollen am Film mitwirken, „der im wahrsten Sinne des Wortes international sein wird“.164 Ferner dreht Genina nach Blumen aus Nizza für die Cine-Allianz Frauenliebe – Frauenleid. Zwar wird der Film von der neuen Cine-Allianz produziert, die ihre Firma ersetzt, doch das Projekt mag auf Pressburger und Rabinowitsch zurückzuführen sein. Darauf weist auch die Tatsache, dass der Film nach dem Krieg als ihr Eigentum anerkannt wird.165 Ersichtlich steht Genina, als er in Wien Blumen aus Nizza inszeniert, in einem Naheverhältnis zum Produzenten-Duo, und der italienische Regisseur spielt bei weiteren Projekten eine wichtige Rolle, die in den späten 1930er Jahren zwischen Wien und Rom Gestalt annehmen, und die zum Teil abermals die ehemaligen Cine-Allianz-Soziussen involvieren.
Eine weitere Episode in der vielfältigen Geschichte der österreichisch-italienischen Kooperation auf dem Gebiet des Films während der 1930er Jahre stellt auch Machatys Ballerine dar.166 Die Verpflichtung Machatys für einen Film in Italien scheint über die Colombo Film zu laufen. Durch Ekstase hatte Machatys Name in Italien breite Bekanntheit erlangt; der Film war 1934 bei der Biennale gezeigt worden, wo er für großes Aufsehen sorgt, und die Kritik hatte ihn allgemein als ein Meisterwerk aufgenommen.167 Anlässlich ihrer Gründung wird in der Presse gemeldet, die Colombo Film hat auch die Herstellung eines Films unter Machatys Regie vor; „das Produktionsprogramm führt Gustav Machaty als Regisseur eines Filmes an“, heißt es in der Internationale Filmschau,168 und Cinegiornale informiert, der Film „wird mit aller Wahrscheinlichkeit in doppelter Version herausgebracht werden“.169 Auf eine Verbindung Machatys zur Colombo Film mag auch ein Detail hindeuten: Im Herbst 1935 befindet sich der Prager Regisseur in Rom, wo er am Presse-Empfang teilnimmt, bei dem die neue Gesellschaft ihr Produktions-Programm vorstellt.170 Letztlich wird Machatys Film von der Anonima Film Internazionali (AFI) hergestellt, die einzig Ballerine produziert. Die Dreharbeiten erweisen sich als problematisch, und Machaty reist nach Wien zurück, ohne den Film zu Ende zu bringen. Als Ballerine im Herbst 1936 bei der Biennale läuft, erleidet der Film ein offenkundiges Fiasko.
Gleichzeitig werden weitere österreichisch-italienische Projekte in Angriff genommen. Der Wiener Schriftsteller Karl Burger soll für einen italienischen Produzenten einen Film schreiben; das Projekt wird im Mai 1936 unter dem Titel Flirt angekündigt, und die Story soll in Wien in der Vorkriegszeit spielen; Hedwig Bleibtreu, Gusti Huber und Fritz Imhoff sollen im Film mitwirken, der „im kommenden Herbst in Wien hergestellt werden [wird]“.171 Zur gleichen Zeit verweilt in Wien der italienische Regisseur Guido Salvini, um über einen Film zu verhandeln, „der die Geschichte der Mailänder Scala in Zusammenhang mit einer interessanten Spielhandlung schildern soll“.172 Es handelt sich um einen prominenten Namen des italienischen Theaters der Zwischenkriegszeit, und Salvini genießt auch in Österreich gewissen Ruf. In den späten 1920er Jahren hatte er in Wien, Budapest und Prag diverse Stücke Pirandellos aufgeführt. Später assistiert er Max Reinhardt bei einigen Inszenierungen in Italien, und Salvini war für einen Falstaff in Salzburg unter der musikalischen Leitung Arturo Toscaninis verantwortlich gewesen.
Am Film über die Scala soll auch der Opern-Star Jarmila Novotna mitmachen, und das Buch soll Fritz Eckhardt verfassen.173 Der österreichische Kabarettist, Autor und Regisseur hatte in den 1920er Jahren als Schauspieler debütiert. Danach beginnt er, Stücke zu schreiben und zu inszenieren, und Eckhardts Karriere setzt in Österreich nach dem Krieg, den er in den USA überlebt, erfolgreich fort. Anfang 1937 wird das Projekt unter dem Titel Regina della Scala von der römischen Aprilia Film hergestellt, doch Eckhards Beitrag bleibt uncredited. Die Produktion leitet G.V. Sampieri, und das Detail ist interessant: Sampieri produziert auch Ballerine, und der tschechische Kameramann Vaclav Vic, der mit Machaty nach Italien gekommen war, wirkt auch an Regina della Scala mit. Ferner schreibt Eckhardt den italienischen Film Nozze vagabonde, und sein Name tritt in Zusammenhang mit einem Projekt über das Leben Christi auf, das der Altmeister Enrico Guazzoni drehen soll; Eckhardt soll das Buch verfassen und als Regie-Assistent fungieren.174
Auch die Horus-Film strebt nach Die weiße Frau des Maharadscha eine Fortsetzung ihrer Kooperation mit Italien an, und Kraus begibt sich im Frühjahr 1936 nach Rom, so meldet Der Wiener Film, um über eine neue Gemeinschaftsarbeit zu verhandeln, die gleichzeitig Deutschland einbeziehen soll.175 Offensichtlich will man an Die weiße Frau des Maharadscha anknüpfen, an dem auch die Bavaria-Film mitgemacht hatte, und die Zusammenarbeit soll einige Filme umfassen. Als erstes Projekt wird Die schwarzen Orchideen angekündigt, wobei es sich um eine Verfilmung der Oper Die schwarze Orchidee von Eugen d’Albert handeln könnte, die Ende 1928 in Leipzig uraufgeführt worden war. An ihrer Inszenierung an der Berliner Staatsoper im Sommer 1929 hatte auch Erna Sack mitgewirkt. Näheres ist über das Projekt nicht bekannt, und der Film kommt nicht zustande.
Im Frühjahr 1936 soll auch der Vorstandsvorsitzende der Tobis-Sascha nach Rom reisen, wo sich Pilzer mit Freddi treffen soll. In einem Schreiben Lanskes an die österreichische Gesandtschaft in Rom heißt es, Pilzer „wird sich Ende April l. J. nach Rom begeben“.176 Der Besuch soll dem Zweck dienen: „In Verhandlungen mit Sektionschef Freddi […] die nähere Voraussetzung für eine italienisch-österreichische Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Spielfilmes zu schaffen“,177 und die Bemühung der österreichischen Major wird vom Bundesministerium für Handel und Verkehr besonders begrüßt. Angesichts der NS-Politik gegen den österreichischen Film wird auf eine Verstärkung der Zusammenarbeit mit dem südländischen Partner abgezielt, um die deutsche Vorherrschaft zu mildern; die „Aufrichtung einer unabhängigen österreichischen Filmproduktion in Anlehnung an die […] italienische“, wird anlässlich Pilzers Reise nach Rom angemerkt,178 soll „im Hinblick auf die scharfe Handhabung des Arienparagraphen durch Deutschland und die mengenmäßige Begrenzung der Filmausfuhr dorthin“ unterstützt werden.
Pilzers Reise nach Rom scheint von Gallone, der zur Zeit in Wien an Opernring arbeitet, vermittelt zu werden, und die neuen Kooperations-Pläne der Tobis-Sascha mit Italien mögen den Regisseur einbeziehen. In einem Schreiben Lanskes an Freddi bezüglich Pilzers Besuch wird auf ihn Bezug genommen: „Ich darf nach Äußerung des derzeit in Wien arbeitenden Filmregisseurs Carmine Gallone annehmen, dass Ihnen […] Pilzers Besuch genehm sein wird“.179 In seiner Antwort hatte Freddi das italienische Interesse an einer Fortsetzung der Kooperation bestätigt: „Ich freue mich sehr, mit Herrn Dr. Pilzer betreffs jener Film-Kooperation, an der uns so sehr liegt, direkt verhandeln zu können“.180 Offensichtlich spielt der italienische Regisseur eine wichtige Verbindungs-Rolle zwischen Wien und Rom, der filmpolitische Bedeutung zukommt und die über die einzelnen Titel hinausgeht, Casta Diva und Opernring (auf die nach dem „Anschluss“ noch Das Abenteuer geht weiter folgt), die Gallone im Lauf des Jahrzehnts zwischen den zwei Ländern dreht.